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Freiräume, Wahlmöglichkeiten, Pluralität und Selbstbestimmung – Offener Brief zur Ganztagsbetreuung an Grundschulen ab 2026
23.03.2023 - Kategorie: Allgemein
Am 10. März fand der Bildungskongress der Kommunalen Landesverbände im Rahmen der Bildungsmesse didacta statt. Im Titel steht die Dekade der Schulmodernisierung, doch es geht um mehr: Eine gute Ganztagsbetreuung der Kinder in Baden–Württemberg.
Ab August 2026 werden nach dem Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) zunächst alle Schüler*innen der ersten Klassenstufe einen Anspruch erhalten, ganztägig betreut zu werden. Der Anspruch wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet. Damit hat ab August 2029 jede*r
Grundschüler*in den Klassenstufen eins bis vier Anspruch auf ganztägige Betreuung. Der Rechtsanspruch sieht einen Betreuungsumfang von acht Stunden an fünf Werktagen vor. Der Rechtsanspruch soll – bis auf maximal vier Wochen – auch in den Ferien gelten.
Im Zentrum der Gestaltung des Ganztags müssen Kinder und ihr gelingendes Aufwachsen stehen! Der große zeitliche Umfang der Ganztagsbetreuung macht aus unserer Sicht ein qualitätsvolles, vielfältiges und von vielen Akteur*innen getragenes Angebot erforderlich, um den vielseitigen
Interessen und Bedarfen von Kindern Rechnung zu tragen. Freiräume, Wahlmöglichkeiten, Pluralität und Selbstbestimmung sind zentrale Eckpfeiler eines Angebots, das auf Kinderinteressen und –mitbestimmung basiert.
Dafür müssen die Rahmenbedingungen jetzt geschaffen werden!
Allerdings schlagen die Kommunen Alarm: Städte– und Gemeindetag wollen aufgrund des Fachkräftemangels den Rechtsanspruch auf unbestimmte Zeit aussetzen. Dies ist sicherlich keine Lösung im Sinne der Kinder und Jugendlichen. Nun gilt es alle Kräfte zu bündeln und eine Vision
für die Zusammenarbeit von multiprofessionellen Teams bei der ganztägigen Betreuung der Kinder zu entwickeln. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte ein „Strategiedialog Bildung in Baden–Württemberg“ sein, der den frühkindlichen Bildungsbereich genauso wie die Primarstufe
und Sekundarstufe I und II und insbesondere auch den außerschulischen Jugendbildungssektor in den Blick nimmt. Es muss eine gemeinsame Vision von Landesregierung, kommunalen Spitzenverbänden, außerschulischen Bildungsträgern aus der Kinder– und Jugendhilfe und der
Kultusverwaltung entwickelt werden, damit jetzt die Weichen für den Start im Jahr 2026 gestellt werden können.
Weiterhin gilt es folgendes zu Bedenken:
Ganztagsbetreuung bedarf einer Verantwortungsgemeinschaft im Sozialraum. Es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind groß zu ziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Dahinter steht die Idee, dass Kinder in einem sozialen Gefüge aufwachsen, sie vielfältige Ansprechpartner*innen brauchen und Kindererziehung nicht nur Eltern und Schule angeht, sondern in der Verantwortung vieler liegt. Die Landesverfassung Baden–Württemberg sieht zurecht die Religionsgemeinschaften und Jugendverbände als zentralen Teil des Erziehungssystems (§ 12,2) und da der Rechtsanspruch im SGB VIII verankert ist, ist die Kinder– und Jugendhilfe ein zentraler Leistungsträger. Diese Vielfalt muss sich auch in der Schule als Teil der Ganztagsbetreuung abbilden. Schule muss sich daher dem Sozialraum öffnen, in Kooperation treten und insbesondere kompatibel mit Sportvereinen, Jugendverbänden, Einrichtungen der außerschulischen Bildung (Musikschulen, Kunstschulen, Bibliotheken) und Offenen Einrichtungen für Kinder (z.B. Kinderhäuser, Aktivspielplätze und Jugendfarmen) sein. Denn die gesellschaftliche
Vielfalt ist wertvoll für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen.
Im Sozialraum – im Dorf, Quartier oder Stadtteil – finden sich viele Organisationen und Akteur*innen, die an ihren Orten zur Ganztagsbetreuung beitragen können. Sie ermöglichen schon jetzt Kindern eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung und Angebote der Alltagsbildung. Diese
Vielfalt des Sozialraums für eine verlässliche Ganztagsbetreuung zusammenzubringen, muss gut koordiniert werden. Dabei gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Freie Träger sind den öffentlichen Trägern gleichgestellt, beide können daher Träger der Koordinierungsstellen sein.
Ganztagsbetreuung braucht Qualität durch Fachkräfte – hauptamtlich aber auch ehrenamtlich Ganztagsbetreuung braucht Verlässlichkeit. Sie funktioniert nur mit ausgebildeten Fachkräften bei angemessener Bezahlung und guten Arbeitsbedingungen. Es braucht jetzt eine
Fachkräfteoffensive, damit 2026 das nötige Personal zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht. Für die Qualität der Ganztagsbetreuung ist die Qualifikation des Personals unerlässlich. Es müssen Berufsbilder für die Ganztagsbetreuung
entwickelt werden. Land, Kommunen und Träger von Ganztagsbetreuung müssen Qualifizierungsmaßnahmen vorbereiten und durchführen. Auch qualifizierte ehrenamtliche Jugendleiter*innen und Trainer*innen sind Fachkräfte der Ganztagsbetreuung. Für sie braucht es
eine hauptamtliche Unterstützungsstruktur vor Ort (in den Vereinen, Jugendverbänden, Jugendringen und Einrichtungen der Offenen Kinder– und Jugendarbeit). Mit den Juleica–Standards gibt es etablierte Qualitätskriterien für Alltagsbildung und Freizeitgestaltung. Sie bilden
neben dem Qualitätsrahmen Ganztagsschule einen Ausgangspunkt, um in der Ganztagsbetreuung Freiräume, Partizipation und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Des Weiteren ist es uns ein Anliegen, dass dies alles nicht zu Lasten der Kinder– und Jugendarbeit gehen darf.
Unser Beitrag zur Ausgestaltung der Ganztagsbetreuung
Wir wollen anknüpfend an das Konzept „Verlässliche Kooperation“ ein Modellprojekt der Kinder– und Jugendarbeit in den Jahren 2023–2024 im Vorgriff zur Umsetzung des GaFöG 2026 mit Unterstützung des Landes durchführen. Dabei soll der sozialräumliche Ansatz sichtbar gemacht
und die Stärken der Kinder– und Jugendarbeit im Bereich der informellen und non–formalen Alltagsbildung und Freizeitgestaltung eingebracht werden. Hierfür sind wir bereits in intensiven Gesprächen mit mehreren Städten in Baden–Württemberg. Weiterhin entwickeln wir die
Grundsätze für gelingende Kooperation und Koordination.
Unterzeichnende
Landesjugendring Baden–Württemberg
Chorjugend im Schwäbischen Chorverband
Bischöfliches Jugendamt Diözese Rottenburg–Stuttgart
BDKJ Rottenburg–Stuttgart
Abteilung Jugendpastoral Erzdiözese Freiburg
BDKJ Freiburg
Landesarbeitsgemeinschaft Offene Jugendbildung Baden–Württemberg e.V.
Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Baden–Württemberg e.V.
Arbeitsgemeinschaft der Landjugenden Baden–Württemberg
Kreisjugendring Esslingen e.V.
Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Baden–Württemberg e.V.
Evangelisches Jugendwerk Württemberg
Landessportverband Baden–Württemberg e. V.
Evangelische Jugend Baden
Autor: Isabelle Arnold am 23. Mrz 2023 09:50, Rubrik: Allgemein, Kommentare per Feed RSS 2.0, Kommentar schreiben,