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Probenpraxis

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Jazz? Im Chor? (Bertrand Gröger & Klaus Frech)

Worin liegt die Herausforderung? Für die Erarbeitung eines Chorwerkes braucht der Jazzchorleiter eine Klangvorstellung und eine Gestaltungsidee; um beides für die Probenpraxis hinreichend konkretisieren zu können, muss er das zu erarbeitende Werk wirklich durchdrungen haben – da unterscheidet sich der Jazzchorleiter nicht von seinen„regulären“ Kolleginnen und Kollegen. Das Durchdringen eines Werkes der Jazzchor-Literatur muss dabei nach unserer Erfahrung in drei Dimensionen geschehen: Rhythmik, Harmonik und Melodik. Das erfordert ein gewisses Maß an spezialisiertem Fachwissen, das Interessierte in Workshops bei einer ganzen Reihe von Veranstaltern erlangen können; als Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: chor.com, AMJ, Landes- und Bundesakademien (insbes. Wolfenbüttel), AAVF, Jazzchor Festival Freiburg, voc.cologne, chor@berlin usw. Einige der Jazz-spezifischen Besonderheiten der drei genannten Dimensionen sollen im Folgenden – nach einer kurzen Hinführung – präzisiert werden.

Jazz…
„Jazz“ ist ein Wort, das in den meisten Köpfen mehr oder weniger klare Zuordnungen und Assoziationen, Bilder und Klänge hervorzurufen vermag, ohne dass wir in der Lage wären, „Jazz“ kurz und prägnant zu definieren. Das liegt ganz wesentlich an der Unschärfe eines Begriffs, der die stilistische Vielfalt einer weitverzweigten musikalischen Strömung unter einen Hut bringen soll, die seit über 100 Jahren eine überaus dynamische Entwicklung genommen und an ihren Rändern immer wieder (z. T. durchaus kuriose) Mischformen hervorgebracht hat. Sinnvoller erscheint daher der Ansatz, die gemeinsamen Merkmale dieser sehr bunten Stilfamilie zu benennen:

  • eine – bei aller stilistischen Vielfalt – durchgängig geltende hohe Bedeutung des Rhythmischen;
  • eine (im Vergleich zu anderen popularmusikalischen Stilen) teils stark erweiterte Harmonik mit hohem Wiedererkennungswert;
  • eine an die rhythmischen und harmonischen Gegebenheiten angepasste Melodik, in der neben Skalen und Akkordbrechungen immer wieder auch die sogenannten „Blue Notes“ eine stilprägende Rolle spielen;
  • ein von Fall zu Fall sehr unterschiedlich ausgeprägter, aber grundsätzlich hoher Stellenwert improvisatorischer Anteile am gesamtmusikalischen Geschehen.

…im Chor
Ohne Weiteres „chortauglich“ sind die Dimensionen Rhythmik, Melodik und Harmonik; auf das Thema Improvisation soll zum Schluss kurz eingegangen werden.

    1. Rhythmik
      Es ist keine Übertreibung, das rhythmische Geschehen im Jazz als essenziell zu beschreiben; ein Chor, der blitzsauber intoniert und in traumhaft homogenem Ensembleklang rhythmisch vor sich hinschludert, wird es schwer haben, sein Publikum mit Jazzchor-Literatur zu begeistern. Rhythmische Präzision auf der Grundlage eines umfassenden Rhythmusverständnisses ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Chorarbeit im Jazzbereich. Umfassend bedeutet, die rhythmischen Dimensionen eines jeden Tons zu erkennen und ihre Bedeutung für das Gesamtgeschehen anzuerkennen: das Ende eines Tons (gemeinsam absprechen!) ebenso wie seinen Anfang, seinen dynamischen Verlauf, seine Akzentuierung und, ganz wichtig, Zeitpunkt und Impuls des Einatmens. All das lässt sich gut und systematisch in die Probenarbeit einbeziehen; darüber hinaus können speziell auf das Probenrepertoire zugeschnittene Übungen das rhythmische Verständnis der Sängerinnen und Sänger vertiefen. Soll beispielsweise ein Swing-Titel erarbeitet werden, kann es sehr hilfreich sein, den ternären Grundrhythmus dieses Stils zu üben – so kann man die Gruppe z. B. reihum sprechen lassen:

      (Person 1) (Person 2) (Person 3) (Person 4) (Person 5) (Person 6) …Im Idealfall lässt man dazu ein (lautes!) Metronom laufen; das fördert zudem das Timing, also die Fähigkeit, ein gegebenes Tempo tatsächlich beizubehalten – eine für jegliche rhythmische Chormusik extrem wichtige Kompetenz! (Metronom-Übungen sollten unbedingt regelmäßiger Bestandteil der Probenarbeit sein; wer die Herausforderung liebt, möge Metronom-Arbeit mit Dynamikverläufen kombinieren…) Am illustrierten Beispiel lässt sich auch die Swing-typische Betonung der Off-Beats (=nicht auf den Zählzeiten liegende Noten) üben, in diesem Fall also die Akzentuierung der Silbe „und“ im Verhältnis zur nachfolgenden Ziffer. All das kann man natürlich auch schenkelklopfend, auf-die-Brust-schlagend, klatschend, schnippend oder singend üben – jede Methode bietet dabei ihre eigenen Vorzüge und kann darüber hinaus den Probenverlauf auflockern.
    2. Melodik
      Der vorige Abschnitt behandelte bereits viele Aspekte auch des melodischen Geschehens, da die Melodik im Jazz ganz weitgehend dem Rhythmischen verpflichtet ist. Das gilt für Solisten wie für Ensembles; das gilt im Swing, wo die Melodiestimme häufig den ternären Groove (mit-)bestimmt, aber natürlich auch in anderen Jazz-Stilen: Mikro-Timing, Phrasierung, Artikulation und Atem-Impulse der Melodiestimme(n) prägen das rhythmische Gesamtbild. Vergleichbar wichtig für einen authentischen Jazz-Klang (und überraschend arbeitsintensiv) ist auch die korrekte Aussprache der meistens englischen Texte. Dabei sollten alle klanglichen Besonderheiten des Englischen beachtet werden: die sehr differenziert einzusetzenden Konsonanten („th“, „w“, „v“ usw.), eine im Großen und Ganzen etwas hellere Vokalfärbung (außer beim „i“) und die Tendenz, Silben und Worte stärker zu binden, als wir oft und deutlich absetzenden Deutschen dies gewohnt sind. Zu den Charakteristika der Jazz-Melodik gehören neben den eingangs erwähnten Blue-Notes eine ganze Reihe stiltypischer Verzierungen oder Effekte: der „scoop“ (das „Anschmieren“ eines Tons von einem tieferen Ton; auf der notierten Zeit), der „fall“ oder das „gliss down“ (ein Glissando abwärts; zum Ende der notierten Tondauer; meist ohne definierten Zielton), der „flip“ (ein sehr kurzer höherer Zwischenton in einer absteigenden Tonfolge) und, als dynamischer Effekt, das fp< (die Abfolge f – subito p – cresc.; bevorzugt auf langen Tönen am Ende einer Phrase). Diese Stilmittel erschließen sich am einfachsten durch wiederholtes Hören und Imitieren; beim Dynamik-Effekt wird man die Intonation im Blick behalten müssen.Vibrato wird im Jazzgesang relativ selten und allenfalls punktuell eingesetzt, gerade im Ensemblebereich ist es praktisch nie anzutreffen; die einzige Ausnahme im weiten Feld der jazzverwandten Stile bildet dabei der Gospel.Ein weiteres Merkmal der Melodiebildung im Jazz verweist schon auf den nächsten Abschnitt: Ein großer Teil der Tonfolgen in Jazz-Melodien der unterschiedlichsten Stilrichtungen ergibt sich aus den harmonischen Zusammenhängen, in denen sie stehen. Dementsprechend sollten Akkordbrechungen immer wieder Gegenstand des Einsingens und der Probenarbeit sein.
    3. Harmonik
      Die Jazz-Harmonik mag auf Neueinsteiger zunächst respekteinflößend komplex wirken, sie basiert aber auf den selben Prinzipien wie die europäische Musik. Im Wesentlichen ist sie durch Dreiklangsergänzungen bzw. -erweiterungen charakterisiert, wie sie zu einem guten Teil auch bei Haydn und Beethoven zu finden sind (von Bach und Reger ganz zu schweigen). Die gängigsten Ergänzungen sind dabei:• die kleine / große Septime (7; maj7)
      • die kleine / große / übermäßige None (b9; 9; #9)
      • die reine / übermäßige Quarte bzw. Undezime (11; #11)
      • die kleine / große Sexte bzw. Tredezime (b13; 13)Diese Intervalle und ihr – teils auch kombiniertes – Vorkommen in Akkorden zu erkennen und zu verstehen ist also das Ziel der Gehörbildung, die Einsingen und Probe immer mit sich bringen (ob man es so nennt oder nicht). Dazu können z. B. Intervallschichtungen aufgebaut oder mit Akkordbrechungen kombiniert werden – diese Verknüpfung der vertikalen mit der horizontalen Dimension des harmonischen Geschehens ist immer hilfreich. So lassen sich viele Jazz-Akkorde mit Skalen bzw. Modi assoziieren, die den bekannten Kirchentonarten entsprechen; bei anderen Gelegenheiten bietet sich möglicherweise ein Exkurs zur pentatonischen Skala an. Wer die Welt der Jazz-Harmonik noch tiefer ergründen will, kann sich (und sein Ensemble) mit den gängigsten Harmoniefolgen, den sogenannten „Changes“, vertraut machen. Dazu gehören kadenzartige (6-) 2-5-1-Verbindungen ebenso wie erweiterte Blues-Schemata oder auf Song-Klassiker zurückgehende Akkordfolgen wie z. B. die legendären „Rhythm Changes“, die ihren Namen der Gershwin-Komposition „I Got Rhythm“ verdanken.Auf jeden Fall sollte aber das harmonische Material des zu erarbeitenden Stücks weitestgehend verstanden und verinnerlicht werden; den Chormitgliedern kann man evtl. eine Audiodatei zur Verfügung stellen, die eine Gewöhnung auch denjenigen ermöglicht, die zum vielleicht doch allzu theoretischen Hintergrund keinen Zugang finden.
    4. Improvisation
      Abschließend noch einige Worte zum Thema Improvisation: Natürlich sind improvisierte Anteile durchaus konstitutiv für „den“ Jazz; Pat Metheny z. B. hat verschiedentlich den Begriff „improvised music“ als Synonym für „Jazz“ verwandt. Das ist einerseits ein bisschen unfair gegenüber den improvisatorischen Elementen in anderen musikalischen Stilen und Welten, andererseits entspricht Methenys Gleichsetzung vermutlich dem Selbstverständnis der allermeisten Jazzmusiker: Diejenigen zu sein, die einen spontanen musikalischen Gedanken quasi „in Echtzeit“ zu Klang werden lassen.Allerdings fand und findet Improvisation im Jazz in einem sehr weiten quantitativen Spektrum statt, von vollständig improvisierten Ereignissen hin zu ganz weitgehend durchkomponierten Werken. Obwohl also das Improvisieren als ganz wesentlich für alle möglichen Jazz-Stile gelten kann, haben die allermeisten Hörer keine Mühe, auch streng durcharrangierte Musik als Jazz zu identifizieren, sofern sie die anderen, oben ausgeführten Merkmale bietet, also eine dem jeweiligen Stil entsprechende Rhythmik, Melodik und Harmonik. Auf exakt diesem Wiedererkennungseffekt basiert auch die Zuschreibung der heute überwiegend improvisationsfrei konzipierten Jazzchor-Literatur als Jazz.Gleichwohl hat die Chormusik in jüngerer Zeit mit dem Circle-Singing eine Form gemeinschaftlichen Musizierens hervorgebracht, die improvisatorische Anteile mit den strukturellen Erfordernissen von Chören und Vokalgruppen zu versöhnen scheint; allerdings setzen sich hier nach meinen Beobachtungen zur Zeit eher weltmusikalische als jazzverwandte Stile durch.

Hilfreiche Publikationen von Bertrand Gröger:
• Loop Songs (Schott) [44 Chor-Etuden unterschiedlichster Stile: Swing, Latin, Afro, Gospel, R&B, Funk, Pop, Rock und World.] https://de.schott-music.com/shop/loop-songs.html
• Warm-Up Your Choir (Schott) […für jeden Chor das passende Angebot an Körper-, Atem- und Singübungen.] https://de.schott-music.com/shop/warm-up-your-choir.html


Hilfreich zu diesem Thema sind u.a. auch:

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